Herthaburg Rügen 
zwischen Himmel, Meer & Kreidefelsen 

Legenden und Bilder 

Auf Rügen gibt es Sagen, Legenden, Erzählungen - teils slawischen, teils germanischen Ursprungs - über die Gänsegöttin, die die Schwanenkönigin ist, über die Göttin, die mit ihren Gespielinnen des Nachts in weißen Schleiern dort tanzt und über Priesterinnen und Frauen der alten Zeit. 


Die Sage vom Königsstuhl 

Es muss ein seltsamer Weg gewesen sein, der sich vor Zeiten unter den hohen Buchenstämmen am Herthasee vorbei zu den weißen Klippen des Königsstuhls wand. Seine Geschichten zeigen, dass man damals nicht ohne weiteres König oder Herrscher werden konnte, wie das heute üblich ist. Die Göttin bestimmte, wen sie auf dem Thron sehen wollte, wer ihrer würdig war. Und wer es nicht war, den stürzte sie die Klippen hinunter, ohne dass weiche Schwanenflügel seinen tödlichen Sturz gebremst hätten.

 Denn das war die Prüfung: den weißen Felsen unten, von der See her zu erklimmen. Wem dies gelang, der mochte König werden, die Oberpriesterin heiraten, die geheimnisvolle Jungfrau in der Höhle befreien oder was es sonst noch an Belohnungen in der Sagenwelt gibt.

Ich weiß von einer Zeit zu berichten, da war es um diese Herrscher wieder einmal schlecht bestellt, vielleicht, weil ihr Regelwerk den Menschen bereits das Atmen erschwerte und insbesondere den Frauen die Lust am Leben und an der Liebe nahm. So hatten sie die seltsame Regel der Keristen übernommen, dass eine Dienerin oder ein Diener der Götter die Liebe nicht leben dürfe und keusch zu sein habe, eine Vorstellung, die man mit Reinheit verband. Ganz besonders litten die Priesterinnen am Herthasee unter dieser neuen Regel, gegen die sie sich nicht offen zur Wehr setzen konnten, denn das Waffen tragen war den freien Slawinnen bereits über hundert Jahre zuvor untersagt worden.

 Die Herren waren recht nervös, denn das Land Rügen war seit einiger Zeit ohne ordnende Hand, kein Mann, kein Held hatte es geschafft, den Königsstuhl zu erklimmen. (Nun wundert ihr euch vielleicht, dass diese herrschenden Herren, die doch sonst alle Regeln nach ihrem Gutdünken veränderten, noch an diesem alten Ritus hingen. Doch wie wir von den Wissenschaftlern heute wissen, ist es leichter, neue Regeln per Gewalt durchzusetzen als alte abzuschaffen - die kleben zäh wie Lehm in den Erinnerungen der Menschen.)

 Die Herrscher waren also nervös und suchten Schuldige für die ständigen Abstürze ihrer Helden. Sie mussten gar nicht lange suchen, denn auch hier fanden sie bei den benachbarten Keristen ein Vorbild: Schuldig an dem Desaster konnten nur die Frauen sein, sie mussten etwas getan haben, das die Göttin verstimmt hatte. Natürlich, sie waren unkeusch gewesen und hatten die Liebe gelebt. Nun war es gewiss nicht schwer, in einer Menge von Frauen eine zu finden, die aus welchem Grund auch immer ihre Regel nicht mehr bekam - ob deshalb, weil sie schwanger war oder weil sie das Alter erreicht hatte, in dem es eben vorbei ist mit der Menstruation, oder auch weil sie zu wenig zu essen hatte, denn die Zeiten waren, wie ich bereits erzählte, schlecht. Es mangelte ihr an Liebe, von der alle alten Geschichten sagen, dass sie notwendig sei, damit die Erde fruchtbar ist.

Die wütenden, unter Druck stehenden Herrscher fanden also eine Priesterin in der Tempelburg am Herthasee, der sie vorwarfen, das Gelöbnis der Keuschheit gebrochen zu haben. Und da die Göttin aus diesem Grund alle Helden vom Felsen stürzte, müsste die Frau auch dieses Schicksal erleiden, damit der Frevel gesühnt sei und endlich ein Mann es schaffen würde, hinaufzusteigen und den Thron Ruganas zu besetzen. Sie stellten die unglückliche Frau auf eine Art Pranger, einen Opferstein, der dort noch am Weg liegt, und es heißt, es hätten sich Füße in den Stein gedrückt, ihre und die des Kindes, das sie angeblich in ihrem Leib trug. Dann zerrten sie die Priesterin an die Klippe und warfen sie hinab.

Nun hatte die Göttin die Dummheiten der Männer ein für alle Mal satt. Sie ließ sich in jenen Zeiten eh nur noch selten sehen, denn sie wollte eben verehrt werden, wie es sich für eine Göttin gehört.

In allen Mythen heißt es, dass ihre sanften Schwingen die Priesterin in der Luft auffingen und sie - in diesem Punkt unterscheiden sich die Mythen - in die Arme ihres Geliebten gleiten ließen, der unten in einem Boot wartete, bereit, mit ihr über das Meer zu fliehen.

Oder, so die zweite Version, der sie auf den Königsstuhl hob und Rugana wieder eine Königin bescherte, so wie alle Länder dieser Welt in Frauenhand ruhen sollten.

In der dritten Version trugen die Schwingen der Göttin sie fort zu jener geheimnisvollen Höhle in den Tiefen der Halbinsel Jasmund, in der eine wunderschöne Frau sitzt, bereit, wen immer sie liebt, aus ihrem Becher trinken zu lassen. 

(erzählt von: Martina Schäfer aus ihrem Buch "Die magischen Stätten der Frauen") 

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